In meinem Sommerurlaub habe ich als Lektüre auch die neue Ausgabe des KARL (02/2024) mit dabei. Karl Heinz hatte diese Zeitschrift von Anfang an abonniert, als sie in den Kinderschuhen noch die Vereinszeitung des Schönecker Schachvereins war. Später machte Harry Schaack aus dem KARL eine periodisch erscheinendes Zeitschrift, die sich mit Sonderthemen rund um das Schachspiel befasst und bei vielen Lesern dadurch sehr geschätzt wird.
In der Ausgabe 02/2024 geht es hauptsächlich um Personen aus der ungarischen Schachszene, angefangen bei ganz frühen Meistern bis hin zu den Polgar-Schwestern, Peter Leko und Rapport.
In einem der Artikel schreibt Stefan Löffler über den „Hüter der Varianten“, Endré Vegh, der ein Mitarbeiter von András Adorján war und ein wohl legendäres nicht-digitales Schacharchiv verwaltet. Dieser Artikel ist schon interessant genug, alleine ein Abschnitt über Andras Adorján entfesselte meine Neugier und Erinnerung. Stefan Löffler schreibt: „András Adjorján, Jahrgang 1950, voriges Jahr gestorben, war ein Genie, aber oft auch ein Arschloch. Manisch-depressiv nannte man solche Menschen früher, heute heißt es bipolar. Er konnte liebenswürdig und selbstlos sein, aber auch mit Beleidigungen um sich werfen…“
Auf einmal war sie dar, meine Erinnerung an einen Frühsommer im Jahr 1986. Ich war zwei Jahre zuvor wegen meines Studiums nach Darmstadt gezogen und nur gelegentlich noch im Mörlenbacher Schachverein. Nichtsdestotrotz war die erste Mannschaft damals auf dem aufsteigenden Ast und spielte mit einer reinen Nachwuchsamateurmannschaft in der Hessenliga, der damaligen dritthöchsten Spielklasse in Deutschland. U.a. Günther Heidl hielt tapfer mit wenig Eröffnungswissen eines der ersten BretterArmin Wolf war auf einer seiner ersten Höhepunkte angelangt, später kamen noch Matthias Vettel, Michael Schäfer, Daniel Beck und Peter Klings mit dazu, so dass wir 1987 zum ersten mal den Aufstieg in die zweite Bundesliga schafften und aus dieser erst nach sehr unglücklichem Verlauf unverdient abstiegen.
Mein Vater war es gelungen einen der damaligen Weltklassespieler András Adorján nach Heppenheim bzw. Mörlenbach für drei Tage einzuladen, allerdings gegen eine stattliche Antrittsprämie. Diese war weitestgehend durch eine Spende der Sparkasse Starkenburg gedeckt, bei der mein Vater damals arbeitete. Junge Schachtalente aus Heppenheim und Mörlenbach bekamen die Chance einen Wettklassespieler im Training näher kennzulernen. András sorgte damals in der Schachwelt für Furore mit seinem von vielen als provokant empfundenen Slogan „Black is ok“. Diverse Varianten analysierte er so, dass am Ende „Black ok“ war.
András kam nach Mörlenbach sprach aber kein Wort Deutsch. Untergebracht war er in einer Pension auf der Juhöhe. Als Dolmetscher hatte mein Vater Jürgen Perrey und mich eingebunden, die beide den Umständen entsprechend Englisch ausreichend sprachen. Jürgen Perrey war lange Zeit Mitglied in unserem Schachverein und spielte ein recht aggressives Schach, übersah gerne aber auch einfache Entgegnungen. An das genaue Programm über drei Tage konnte ich mich nicht mehr erinnern. Einen Tag machten wir einen Abstecher an den Neckar, ich meine nach Neckarsteinach. Dort war zu diesem noch eine Fabrik, die Holzschachfiguren und Bretter herstellte. Jürgens und meine Aufgabe bestand darin, in den Pausen András überall hin zu folgen und ihm zu dolmetschen.
Der Höhepunkt des Besuches war ein Uhrensimultan gegen 20 ausgewählte Spieler, dass in den Räumen der ehemaligen Sparkassenzentrale in Heppenheim ausgetragen wurde. Mörlenbach und Heppenheim hatten die Gelegenheit alle Nachwuchsspieler einzusetzen. Komplementiert wurde das Teilnehmerfeld durch die damaligen Spitzenspieler in den Vereinen. Natürlich durfte ich mitspielen. Und es entspann sich die folgende Partie:
Bei meiner Partie war ich mir am Ende nicht sicher ob András mich hatte gewinnen lassen. Ich vermute es, ohne es belegen zu können. Dann war dies eine sehr großzügige Geste.
Die Simultanvorstellung endete dagegen skandalös. Mit anderen Spielern ging der spielstarke Ungar keineswegs fair um. Als er merkte, dass er von den 20 Partien einige verlieren würde, nahm er einfach bei einigen der kritischen Partien seine Züge zurück. In anderen Partien erklärte er die verlorenen Stellungen einfach einseitig als Remis. Hier müssen andere einspringen, vielleicht Armin Wolf oder Daniel Beck und ihre Partien zeigen. Es nahm jedenfalls kein so schönes Ende und etliche Spieler gingen verärgert über die Star-Allüren des ungarischen Meisterspielers nach Hause.
38 Jahre später gingen mir beim Lesen des KARL Artikels die Augen auf. Was wenn András Adorján damals bereits an bipolarer Störung litt? Das würde die damals schon offensichtlichn Stimmungsschwankungen in ein anderes Licht rücken, wenn ich sie auch nicht nachträglich als Entschuldigung heranziehen möchte. Nochmals Teile aus dem 2024 Zitat von Stefan Löffler: „András Adjorján … war ein Genie, aber oft auch ein Arschloch. …Er konnte liebenswürdig und selbstlos sein, aber auch mit Beleidigungen um sich werfen…“
Die Zeit 1986 hatte ich bereits tief in meinem innersten begraben und vergessen. Jetzt im Sommerurlaub 2024 steht auf einmal alles wieder lebendig vor mir.